Heinrich Seidel (1842 bis 1906)



Der Vertraute

Aller sehr verliebten Seelen
Sitte ist's den Mond zu fragen.
Wenn sie sich in Sehnsucht quälen,
Soll vom fernen Lieb er sagen.

Neulich frag ich ihn: "Du gutes,
Silberhelles Aug' der Nächte,
Sieh' ich bin verlegnen Mutes,
Ob mein Lieb auch mein gedächte.

Sonst auf ihrem Kammerfenster
Sah ich oft dein mild Gefunkel,
Wenn zur Stunde der Gespenster
Ich dort unten stand im Dunkel.

Meine ganze Lieb hast du
Damals Mond erschauen müssen;
Auch in jener Laube sahst du
All die roten Küsse küssen.

Ach, du kennst ja die Geschichte.
Sprich nun ist sie treu gewesen?
Laß aus deinem Angesichte
Freundlich mich die Antwort lesen".

Doch der runde Mond - bedächtig
Schaute er auf mich hernieder!
Und mir war als wenn verdächtig
Zwinkten seine Augenlieder.


Veränderung

Noch weiß ich wohl, wie ich zuerst dich sah:
Es war zur Abendzeit und dunkel schon -
In hellem fließenden Gewand, das unten
Ein zart Gekräußel schön umgab - die Finger,
Die zierlich schützend du um's Licht gebogen,
Von ros'ger Glut durchhaucht - so standest du,
Und fragend schauten mich aus hellem Antlitz
Zwei dunkle Sterne an. -
Wie anders jetzt,
Wenn dein bebendes Ohr erlauscht den Schritt,
Den wohlbekannten, wenn die leichten Füßchen
Entgegen mir hinab die Stufen trillern. -
Und liegst dann seligatmend mir im Arm
Und küssest einzig nur und fragst nicht mehr!