Hermann Lingg (1820 bis 1905)



Frühlingsgestirn

Wie flammst du heut so mächtig wieder,
Als zöge dich zur Erde nieder
Die Sehnsucht einer ew'gen Macht.
So herrlich sehn wir dich entbrennen,
Daß wir dich Stern der Liebe nennen,
Du hellster in der Frühlingsnacht!

Bist du des Himmels gold'ne Zähre -
Die über uns und unsere Sphäre
Ein Engel der Erbarmung weint?
Sind wohl auf dir die Friedensauen,
Wo Seelen einst sich wiederschauen
Nach Leid' und Todesschmerz vereint?


Hüte dich!

Nachtigall, hüte dich!
Singe nicht so lieblich!
Ach, dein allzuschönes Singen
Wird dich um die Freiheit bringen.
Hüte dich!

Schöne Blume, hüte dich,
Blühe nicht zu glühend,
Dufte nicht so voll Entzücken!
Wer dich siehet, will dich pflücken,
Hüte dich!

Schönes Mädchen, hüte dich!
Lächle nicht so gütig!
Deine Schönheit, deine Güte!
Denk an Nachtigall und Blüte!
Hüte,
Hüte dich!


Immer leiser wird mein Schlummer

Immer leiser wird mein Schlummer,
Nur wie ein Schleier liegt mein Kummer
Zitternd über mir.
Oft im Traum hör' ich dich
Rufen drauß vor meiner Tür;
Niemand wacht und öffnet dir,
Ich erwach' und weine bitterlich.
Ja ich werde sterben müssen,
Eine andre wirst du küssen,
Wenn ich bleich und kalt,
Eh' die Maienlüfte wehen,
Eh' die Drossel singt im Wald;
Willst du mich noch einmal sehen,
Komm, o komme bald!


Vergilbte Blätter

Weil du mir zu früh entschwunden
Blieb ein unerfülltes Glück
Ungemess'ner schöner Stunden
Ruhelos in mir zurück.

Ungeküßte Küsse leben
In getrennten Herzen fort,
Und die Lippe fühlt noch beben
Das zu früh verstummte Wort.


Verwandlung

Ich sah dich noch ein lieblich Kind,
Umflattert von der Unschuld Träumen,
Wie Knospen, die am Aufblühn sind,
Und schüchtern, aufzublühn noch säumen;
Schon waren alle Reize dein,
Dich ahnungsvoll vorauszuschmücken,
Und wer dich sah, sprach mit Entzücken:
Wie schön wird einst dies Mädchen sein!

Ich sah dich wieder - Jahr und Tag
War unterdes dahingegangen;
Anstatt der Jugendrosen lag
Ein stiller Gram auf deinen Wangen.
Doch welche Hoheit war noch dein!
In deinen Blicken welche Sonne!
Ich sprach zu mir mit Schmerz und Wonne:
Wie schön muß sie gewesen sein! -

Ich sprach dich, welche Milde floß
Und welche Anmut dir vom Munde,
Wie stand'st du da, wie rein und groß,
Verhüllend deines Herzens Wunde;
Dein edles Herz, dies blieb ja dein,
Das wird dich stets am meisten schmücken,
Ich fühl's mit innigem Entzücken:
So schön, so wirst du immer sein!